Es ist Liebe auf den ersten Blick. Ich sitze im Hafen von Las Palmas auf Gran Canaria und schaue sehnsüchtig zur „Carita Brando“, die in der Mitte des Hafenbeckens vor Anker liegt. Ein Zweimaster, völlig aus Holz, etwa dreißig Meter lang und im klassischen Stil der alten Segelschiffe mit Heckkajütaufbau gezimmert. Ich verliere mich in Tagträume: Der Inhalt ist ein ziemlich wirrer Verschnitt aus der „Meuterei auf der Bounty“, aus „Moby Dick“ und dem „Seewolf“.
Abends, in der Bar „Las Rosas“, im Zentrum von Las Palmas. Sangria, Bier und gute Musik. Junge Leute aus Holland, Frankreich, England, Skandinavien und sogar aus Argentinien. Noch keine Pauschal-Ballermänner wie ab Mitte der Achtziger. Das Reisen in den frühen Siebzigern ist denkbar unkompliziert. Ein Rucksack, ein Schlafsack, ein Ticket und los geht’s! Wohin? Egal, es wird sich auf der Reise von selbst ergeben.
Ich lerne Monique kennen. Sie kommt aus der Nähe von Paris und ist bereits seit mehr als einem halben Jahr unterwegs. Sie trägt ein mit Blumenmuster bedrucktes, leichtes langes Kleid, einem indischen Sari nicht unähnlich, ein rotes Bandana auf dem Kopf und eine lange Halskette mit Glasperlen und Muscheln. Flower power wie aus dem Bilderbuch.
Hier ist sie auf der Carita Brando gelandet. Ich horche auf!
„So ein altes abgetakeltes Segelschiff – eigentlich ein Seelenverkäufer“ wie sie mir zu erklären versucht. Als ob ich nicht wüsste.
Sie erzählt weiter, dass das Schiff, ein alter Walfänger, ursprünglich aus Norwegen stamme und sie es zu sechst hier auf Gran Canaria wieder seetüchtig machen wollen, um dann über den Atlantik in die Karibik zu segeln.
Ich frage sie, ob noch ein Platz auf dem Schiff wäre und sie bejaht. Wir holen sofort meinen Rucksack aus der Pension, wo ich mit drei Holländern gemeinsam ein stickiges Zimmer bewohne. Drei Holländer und ein enges Hinterhofzimmer im Tausch gegen Monique und die Carita Brando.
Aufstieg auf allen Linien. Bingo! Schiff Ahoi! Karibik, ich komme!
Dass Monique aber zu Pierre, dem Boss auf der Carita Brando gehört, erfahre ich dann eine Stunde später. Aber egal. Ich bin mit an Bord. Mit Pierre und Monique aus Frankreich, Jon, Rob und Annegret aus Holland und Phil aus England. Alles Späthippies, die das Ende der Flower-Power Zeit irgendwie übersehen haben müssen. An Bord die Musik von Jimi Hendrix, Joan Baez, Arlo Guthrie und Bob Dylan. Bestens dazu passend auch Räucherstäbchen in allen möglichen und unmöglichen Duftnoten, billiger Rotwein in Doppelliterflaschen und dicke Joints, die ständig die Runde gehen.
Ich beziehe eine Koje im Mannschaftsraum. Es ist eng und dunkel, die Luft ist stickig und dazu kommt das Kleinhirn folternde Schaukeln des Schiffes. Ich weiß bereits nach fünf Minuten, dass ich es hier unten keine einzige Nacht aushalten werde ohne kotzen zu müssen. Ich werde also an Deck schlafen oder im Las Rosas die Nächte verbringen.
An Deck gibt’s Arbeit genug zur Ablenkung. Stündlich mit einer Uralt-Leierpumpe das Wasser aus der Bilge pumpen bis schwarze Punkte und bunte Ringe vor den Augen tanzen. Das Schiff leckt wie ein Küchensieb und das Wasser unten in der Bilge steht zehn Minuten nach dem Leerpumpen wieder knöcheltief. Ich denke darüber nach ob es nicht vernünftiger wäre in die Karibik zu fliegen und dort wieder an Bord zu gehen. Nach der Atlantiküberquerung! Die Beplankung an der Wasserlinie des Schiffes muss getauscht werden. Hierzu ein so einfacher wie genialer Plan: Mit dem Beiboot rudern wir im Schutz der Nacht zum Sandstrand vor der Promenade in Las Palmas, schaufeln mehrere Hundert Jutesäcke voll Sand und bringen diese, immer zu 10 Stück, zum Schiff. Dort werden sie zuerst mühevoll an Deck, dann in den Laderaum nach unten gebracht, wo sie alle auf einer Seite des Schiffesrumpfes gestapelt werden. Bis sich das Boot auf Grund der einseitigen Beladung so weit zur Seite neigt, dass die gegenüber liegenden Planken getauscht werden können. Wir sind stolz über unseren Einfallsreichtum.
Was aber mögen sich die Urlauber am nächsten Morgen ob der riesigen Krater am Sandstrand gedacht haben? Ein Meteoriteneinschlag? Ein Riss in der Erdhülle vielleicht, wo der Sand wie in einer Sanduhr langsam nach unten, ins Bodenlose rieselt? Oder gar Sanddiebe – Banditos de la Playa?
Zur Aufbesserung der Finanzen fertigen Monique und Annegret Modeschmuck an. Ich habe aus Südmarokko einige Kilogramm „Goulemine Beats“, kleine, bunte Glasröhrchen mitgebracht, die sie auf Lederriemen fädeln und abends an der Strandpromenade von Las Palmas an Touristen verkaufen. Oder zumindest versuchen, diese an Touristen zu verkaufen. Möglich, dass Tellerwäscher schon zu Millionären wurden, von Billigen-Halsband-Verkäufern ist mir jedoch nichts dergleichen bekannt.
Aber es sind schöne Abende an der Promenade. All die Langzeitreisenden haben irgendwelche Decken oder Kartons ausgebreitet und bieten an, was immer sich auf Reisen herstellen und verkaufen lässt. Modeschmuck aus Muscheln, Weißblech oder Kupferdraht, Haschischpfeifen aus Ton, Kleinskulpturen aus Cola-Dosen – der Fantasie sind, so scheint es, keine Grenzen gesetzt.
Nebenbei noch der Smalltalk unter Globetrottern. Erfahrungsaustausch in internationaler Geographie.
„Du musst unbedingt nach Goa in Indien, ich bin dort jeden Winter einige Monate, eigentlich sind wir alle im Winter immer dort, weißt du...“
„In Marrakesch musst du in die kleine Pension gleich hinter dem Cafe du France – sag´ Ali einen Gruß von Mitch – er gibt dir dann das Zimmer mit dem Blick auf den großen Platz....“
„Wir bleiben hier nur noch kurz, danach gehen wir nach Afghanistan, du weißt schon.....“
„Ich bin jetzt schon vier Monate auf Achse Bruder, aber am besten hat´s mir bisher im Christiania in Kopenhagen gefallen, völlig irre Typen dort, sag´ ich dir, einfach ....“
So nebenbei werfen wir ungerechte, weil mitleidige Blicke auf die vorbeigehenden Touristen, die eine oder zwei Wochen hier dem Alltag entfliehen. Bilderbuchfamilien wie aus dem Vorabendprogramm des Fernsehens. Nur Lassie musste zu Hause bleiben. Wir sehen amüsiert zu, wie Väter ihre Kinder erschrocken wegziehen und weiter drängen, wenn diese vor den ausgebreiteten Decken stehen bleiben und unseren Gesprächen zuhören wollen.
Oder gar dem gitarrespielenden Jimmy bei seinem Lieblingssong von „The Brotherhood of Men“:
Don´t bogart that joint, my friend
pass it over to me
rooooooll another one
just like the other one
you´ve been holding on to it
and I sure will like a hit
don’t bogart that joint, my friend
pass it over to meeee……..
Ich kann förmlich die Gedankengänge in den Gehirnen der ängstlichen Eltern sehen, die aus einem natürlichen Instinkt heraus ahnen, dass dieses Herumtreiben, dieses freie und ungebundene Reisen eine äußerst ansteckende Krankheit sein kann, die sie natürlich von ihren Kindern fernzuhalten, verpflichtet sind.